Kleider
Schlaf, Kindchen, schlaf
Des Vaters Ton war scharf
Die Mutter schüttelt´s Bäumelein
da fiel herab ein Träumelein
brav, Kindchen, brav
Judith Holofernes
Abgestreift die Gewänder des Tages. Hinterlassen. Auf den Morgen wartend, verbringen sie die leeren Stunden der Nacht über der Lehne eines Stuhls. Die Schuhe, kaum erlöst vom Pflaster des Alltags, stehen schon erwartungsfroh ausgerichtet. Als könnte das Klingeln des Weckers jeden Moment ertönen, ihnen erneut das Zaumzeug anlegen und sie auf gewohnte oder vielleicht auch neue Wege schicken.
Manchmal sanft und weich über das morgenfeuchte Moos bewaldeter Lichtungen führend, langsam den Tau aufsaugen oder in klackender Kaskade U Bahn Treppen hinab eilen lassen um im Rattern und Quietschen der Züge zu verschwinden.
Wer weiß das schon?
Doch vorerst herrscht im Reich der Träume ein verschwiegenes Regiment. Anfangs leise flatternd kleinen Vögel gleich, kommen die Bilder, scheinbar unzusammenhängende Fetzen, bevor sie wie die abgelegten Kleider den Weg der Körper nachzeichnen. Vorsichtig die Haut berührend, über den Kopf streichend, wie einst die mütterliche Hand. Einhüllend wie ein sommerliches Laken, wärmend und kühlend sich des schlafenden Körpers bemächtigen.
Welche Wege wirst Du dann gegangen sein? Wem bist Du begegnet?
Was wirst Du erlebt haben? Am Ende der Nacht?
Wenn du blinzelnd erwachst.
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Das hätte ihr bestimmt gefallen. Alle in bunten Kleidern. Die Jungs im T-Shirt und Jeans. Nur Jochen, der Christina schon immer aussichtslos geliebt hatte, konnte nicht anders in seinem dunklen Anzug mit dem weißen Hemd und der dünnen Krawatte.
Viele Sommerblumen. Keine Kränze. Und die schräge melancholische Musik als hätten Django Reinhardt und Tom Waits ein Album zusammen mit Amy Winehouse aufgenommen. Wo haben sie die Band nur aufgetrieben? Aber irgendwer meinte, das wäre eine ihrer letzten Entdeckungen gewesen, gebucht für die nächste Inszenierung. Die kommen wahrscheinlich durch keine Sicherheitskontrolle am Flughafen, so viel Metall, wie jeder von denen am Körper trägt.
Die kraftvolle Traurigkeit des letzten Liedes würde wohl noch Wochen in Corinnas Kopf alles übertönen. Selbst das Rauschen des Meeres, an dessen Strand sie bei einem der letzten Vollmonde noch alle gesessen hatten. Die Kinder hatten sich müde getobt und waren nach und nach im Huckepack ins Haus getragen worden, wo man sie praktischerweise nur in dem Matratzenlager unterm Dach abladen musste. Allmählich war es auch dort etwas kühler geworden, aber es reichten dünne Laken sie zuzudecken. Dort schliefen sie dann wie ineinander verknäulte Welpen. Die Dachfenster waren weit geöffnet und klapperten leise.
Am Strand war es nicht dunkel, obwohl sie kein Feuer gewagt hatten. Nur ein ganz leichter Wind vertrieb die Hitze des Tages. Das Meer unbeeindruckt und still, von hinten trockenes Rascheln in den Dünen. Die verkrüppelten Bäume kommentieren die Szenerie hin und wieder mit einem leichten Seufzen. Seit Wochen kein Regen und der Wald ganz nah.
Zur Belohnung stand weit über dem Horizont eine riesige weiße Scheibe am Himmel, als bräuchten sie Trost. Die Gespräche werden sanft, leise und mit großen Pausen geführt, als würde man sonst die Steine und das Meer aufwecken, die gerade so friedlich schlafen. Heute kein Streit. Keine letzten Wahrheiten. Alle hatten sich die Ruhe verdient nach all dem Toben des Tages. Sonnenhungrige, Badende, Spaziergänger.
Immer mal zieht sich einer seine Kleidung aus, geht langsam und vorsichtig ins Wasser. Ruhiges gleichmäßiges Schwimmen. Kein Plantschen. Kein Prusten. Zurück am Ufer legt man sich ein Handtuch über die Schulter und setzt sich erstmal wieder zu den anderen. Erzählt ein wenig atemlos, wie schön es da draußen ist, bis es zu kalt wird und man sich wieder anzieht. Als wäre es ein Reigen, vollzieht ein anderer das gleiche Ritual. Die Körper sind schon länger keine bleichen Schatten mehr. Im Licht des Mondes schimmern alle gleichmäßig gebräunt und schön. Die Schrunden des Tages und der Staub der Stadt sind irgendwo beim Haus in ihren Taschen und Rucksäcken geblieben. Manche von ihnen sind schon seit Wochen da. Es war ein ständiges An- und Abreisen. Niemand konnte genau sagen, wie viele sie gerade waren und es hätte auch keinen gewundert, wenn ein Kind aus Versehen dageblieben oder verwechselt worden wäre. Die Kinder lebten hier
ohnehin in ihrer eigenen Welt. Lediglich Hunger oder eine kleine Wunde am Knie brauchten manchmal die helfende Hand der Großen.
Die Kunde vom Haus hinter den Dünen war wie eine stille Post im Freundeskreis herumgegangen. Keiner hatte Lust auf lange Reisen gehabt. Keine Flughäfen und endlose Autobahnen. Aber hier, nur drei Stunden von der Stadt entfernt, war es perfekt. So entspannt war es wohl nie vorher und sollte es wohl auch nie mehr sein. Christina hatte das Haus von einer alten ungarischen Tante geerbt. Jene legendäre Frau, die früher in Dessau gelebt hatte, Lebensgefährtin eines Bauhaus Meisters, der ihr das charmante kleine Haus als Ablass für seine Untreue überließ. Jetzt war es an Christina gegangen. Da sie aber mit Besitz nichts anfangen konnte – viel zu viel Verpflichtung – verkaufte sie es gleich weiter an einen alten Freund, der aus irgendwelchen Fernen zurückkommend, hier seinen Alterssitz nehmen wird.
Im Herbst messen und planen die Architekten. Doch das jetzt war erst einmal ihr Sommer. Selbst die Unzulänglichkeiten – nur ein Bad mit Badeofen und schrundiger Wanne, eine Toilette und ein altes Plumpsklo ganz hinten im Garten, spielten keine Rolle. Morgentoilette im Meer. Für ernste Fälle, die es bei den Kindern manchmal gab, waren da die Duschen des nahegelegenen Campingplatzes.
Nudeln, Pizza, Supermarktbrot und kein Streit wer einkauft. Idylle auf Zeit. An diesem Vollmondabend am Strand, das wird ihr letztes langes Gespräch sein, was beide nicht wissen konnten. Es ist auch eher ein vertrautes Schweigen. Von den Jahren, die sie zusammen gelebt haben, ist kein Groll geblieben.
Auch wenn am Anfang Schmerz und Unverständnis bei Christina sehr tief gesessen haben mussten, als sie ihr gesagt hatte, dass sie sich für das Leben mit einem Mann entschieden habe und Kinder will mit ihm. Corinna, Du und das ganze Vater, Mutter , Kind Idyll – glaubst du wirklich, Du kannst das?
Sie wusste es nicht, aber so wie es war, konnte es nicht bleiben. Zu viele Leerstellen. Christina war zu sehr für alle da.
Jetzt saß sie hier und hatte den Kleinen, der sich an sie geschmiegt hatte, wie ein kleines Tier, ins Haus zu seiner Matratze getragen, noch einmal durch sein sandiges ausgeblichenes Haar gestrichen und war an den Strand zurückgekehrt. Sie setzte sich neben Christina. Ein paar spärliche Sätze.
Christina lehnte sich zurück, legte dabei ihre Hand auf Corinnas und meinte, dass sie übermorgen zurück müsse und ob sie bis zum Ende der Ferien bleiben könne, alles abschließe und ihr dann in der Stadt den Schlüssel vorbei bringe. Sie muss sich sonst um nichts kümmern. Es kommt eine Frau aus dem Dorf. Die räumt auf und nimmt sich ein paar Möbel und Geschirr fürs Gartenhäuschen mit. Später dann wird ohnehin der ganze Rest entrümpelt.
Es passte, Corinna hatte Zeit und wollte ohnehin noch ein wenig bleiben. In die Stadt musste sie erst wieder zurück, wenn die Große wieder in die Schule muss.
Danke. Ist doch schön hier? Jetzt bereue ich es schon, es so Knall auf Fall verkauft zu haben.
Sie drückte noch einmal Corinnas Hand ganz fest und stand auf.
Wochen später in der lauten Stadt waren sie schon wieder so eingespannt, dass sich kein Termin fand, ihr den Schlüssel persönlich zu übergeben. So warf sie ihn mit einem metallischen Scheppern in den Briefkasten.
Dass Christina ein schwaches Herz hatte, blieb das Geheimnis ihres Arztes und ihr, bis zu jenem Morgen, als sie nicht zur angesetzten Probe erschien, was so gar nicht ihre Art war.
…und das, was du versäumst,
ist mehr als das, wovon du träumst